„Wären Fluss und Meere Tinte…“

Adel Abdessemed, Ai Weiwei, Per Dybvig, Barbara Eichhorn, Humphrey Ocean, Renato Ranaldi, Yehudit Sasportas

DIE TOPOGRAFIE DES MEERES 

Wo fängt das Meer an und wo endet es? Und welche Farbe hat das Meer eigentlich? Betreten blickt man seinen Wogen entgegen. So mancher scheiterte daran, das Meer mit all seinen Gründen und Gräben zu zähmen, Ahabs Bein sei hier nur eines unter vielen Zeugen.

Die beiden Meeresgötter Okeanos und Thetys zeugten Gaia, jene Urmutter, der wir den festen Grund unter unseren Füßen verdanken. Ihr Wesen stand sowohl dem Leben als auch dem Tod nahe, angesichts der zahllosen Menschen, die das Meer tagtäglich verschlingt, traurige Wahrheit: Wo die einen gerade Urlaub machen, verliert ein Kind sein Leben, umspült von der Trostlosigkeit einer Welt, die dabei ist, ihre letzten großen Erzählungen zu verlieren.

Sehnsucht war es, die Joseph Conrads Romanhelden immer wieder aufs Meer trieb – eine Regung, die nicht mehr so recht in unsere schnelllebige, postmoderne Zeit passen möchte. Und doch zieht das Meer seine Bahnen durch die Kunst- und Literaturgeschichte. Schon Andreas Gryphius oft bestürmtes Schiff wird in seinem Sonnet An die Welt vom grimmen Wind und frechen Wellen geschüttelt, Metapher für ein mit all seinen Abgründen umspültes Leben. Bei Hemingway wird diese Metapher umgekehrt: Hier ist das Meer Ausdruck eines neuen, modernen Zeitalters, dem das Archaische entgegengestellt wird. Der Kampf des Fischers Santiago kann hier als Abgesang an eine Zeit vor unserer Zeit gelesen werden. Und das Meer als alles vor sich einstampfendes Ungetüm eines schleichenden, neuen Jahrtausends. Angekommen in der Pop-Kultur ziseliert bei Blixa Bargeld das Meer mit seinem Kommen, seinem Gehen, seinem ständigen Gewäsch Küsten, will das Undefinierbare definieren. Die Zeit zermahlenden Wellen rücken hier in den Fokus, denn sie sind es, die wiederum einem Meer sein Antlitz verleihen: Und doch weiß niemand, wie lang die Küste wirklich ist, wo das Land aufhört, das Land beginnt, denn ständig ändert ihr die Linie, Länge, Lage, mit dem Mond und unberechenbar. Beständig nur ist eure Unbeständigkeit.

Also schaukelt das Meer scheinbar ruhig vor sich her. Ein Zusammenspiel zwischen brodelnder Unruhe und leiser Beständigkeit, die – siehe da! – auch nur Schein ist. Seine immanente Rohheit wird zum Programm erklärt. Ein Zusammenspiel zwischen Improvisation, Intuition und Demutsübung innerhalb eines breiten Spektrums von Graphitgrau bis schwarz. Es sind Ansätze und Annäherungen, denen der Wahnwitz innewohnt, mit Bleistift etwas zu erfassen, was nicht zu erfassen ist. Deshalb loten die Künstler immer wieder neu aus, setzen immer wieder neu an. Die in dieser Ausstellung gezeigten Arbeiten sind der kühne Versuch eines auf Papier gebannten, inneren Meeres ohne Aussicht auf dessen Bändigung. Gerade deshalb sind wir als Betrachter gefordert, das innere Schaukeln dieses Meeres nach außen zu tragen. Dass die Künstler auf so eindrückliche Weise dessen Oberfläche abgesteckt haben, erlaubt mir das etwas trotzige Oxymoron einer Topographie des Meeres und die von der Dichterin Ilma Rakusa formulierte Forderung nach Mehr Meer.
(zit. n. Marko Dinic, 2017)

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