Das
Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung hat im vergangenen
Jahr weltweit 20 bewaffnete Auseinandersetzungen gezählt, die man als Kriege einstufte.
Dazu kommen, eine Stufe darunter,
415 Konflikte, die teilweise als hochgewaltsam bewertet wurden. Viele
dieser Kampfhandlungen sind, auch was die allgemeine Wahrnehmung betrifft, so
weit entfernt, dass sie das Bewußtsein des Westens gar nicht erreichen, etwa in
der zentralafrikanischen Republik, in Myanmar oder in entlegenen Regionen
Indiens. Doch die andauernden Kämpfe in der Ostukraine zeigen, dass der Krieg
auch aus dem Wirkungsbereich der sogenannten hochzivilisierten Staaten der EU
keineswegs für immer verschwunden ist.
Das Schlagwort vom „Ende der Geschichte“, das Francis Fukuyama nach dem
Ende des Kalten Krieges geprägt hat, wurde längst als Trugbild entlarvt.
Geschichte wird gemacht, es geht voran – aber eben nicht mehr unter den übersichtlichen
Bedingungen eines Gleichgewichts des Schreckens, sondern als unvorhersehbares
terroristisches Attentat oder als spontane Volkserhebung in autokratischen
Regimen.
Der
exilalgerische Künstler Adel Abdessemed, der seine künstlerische Agenda einmal
mit den Worten „handeln, widerstehen und schaffen mit der Absicht, die Welt zu
verändern“ beschrieben hat, trägt der Ubiquität des Krieges in zeitgenössischen
Lebens- und Medienwelten in der
Serie „Soldaten“ Rechnung. Seine mit dickem Strich grob schraffierten
Kohlezeichnungen von Kämpferkörpern in voller Ausrüstung, mal mit der
Schusswaffe im Anschlag, dann wiederum relaxed auf den nächsten Einsatz wartend
oder gemächlich voranschreitend, sind weniger individuelle Typologien als
archetypische Erscheinungen, abgezogen vom Film oder von photojournalistischen
Bildern, die der Künstler durch den Zugriff seiner Hand gleichermaßen
appropriiert und abstrahiert hat. In Abdessemeds „Soldaten“ hat das Mal du
Siècle einer Epoche, in der Kriege privatisiert werden und das Gewaltmonopol
des Staates erodiert, gewissermaßen ein visuelles Emblem gefunden. „Soldaten, Soldaten sind schöne
Burschen“ singt Marie in Wozzeck und man darf vielleicht darauf hinweisen, dass
im Subtext der Zeichnungen ein erotisches
Tremblement
mitzittert, wenn man an jene fetischistische Leidenschaft denkt, die von
Männern in Uniform häufig ausgelöst wird.
Abdessemeds Zeichnungen, die jeweils nur einen
Soldaten im Combat Dress zeigen, siedeln sich in einem Bereich zwischen
Erinnerung und Halluzination an. Herausgelöst aus dem narrativen Kontext, in
dem sie ursprünglich ihre visuelle Kraft entfaltet haben, werden sie zu
künstlerischen Platzhaltern einer hypostasierten Vorstellung von Shock and
Awe, deren
traumatische Afterwirkungen die meisten nicht aus dem eigenen Erleben, sondern einem in Kriegszeiten
besonders massiven Medien-Impact schöpfen. Adel Abdessemeds „Soldaten“
verkörpern Gewalt, jenseits einer wie auch immer gearteten Logik des
Ausnahmezustandes, im buchstäblichen Sinne des Wortes: Nicht als Mittel zum
Zweck, sondern als Chiffre für einen ekstatischen Überschuss der Kräfte, der
sich im Zeichen der Kunst / in der künstlerischen Zeichnung als
fundamentalontologische Disposition manifestiert: The Horror, the Horror!
(Thomas Miessgang, 2015)
Last year the Heidelberg Institute for International Conflict Research counted twenty armed conflicts worldwide, all of which were classified as wars. Add to this, one level below, 415 conflicts some of which were assessed as high-intensity. In general perception, a number of these armed clashes are so far away that they do not reach western consciousness, such as those in the Central African Republic, Myanmar or in remote regions of India. However, as the continuing fighting in Eastern Ukraine shows, war has by no means vanished from the so-called highly civilized nations of the EU. The catchword “end of history”, coined by Francis Fukuyama at the end of the Cold War, has long been proven to be an illusion. History is made, it progresses – now no longer under the straightforward conditions of an equilibrium of terror but in response to an unpredictable terrorist attack or spontaneous popular uprising in autocratic regimes.
The Algerian artist Adel Abdessemed who lives in exile once described his artistic agenda with the words “acting, resisting and creating with the intention of changing the world.” He takes into account the ubiquity of war in contemporary life and media worlds in his “Soldiers” series. His charcoal drawings of the bodies of fighters, rendered in thickly shaded lines, in full combat dress, holding a firearm in the ready, then waiting in a relaxed state for the next mission or leisurely marching ahead, are not so much individual typologies as archetypical manifestations, taken from film or photojournalistic imagery which the artist has both appropriated and abstracted in his artistic intervention.In Abdessemed’s “Soldiers”, the mal du siècle of an age in which wars are privatized and the state’s monopoly on power has eroded finds a visual emblem. “Soldiers, soldiers are nice boys”, Marie sings in Wozzeck and one could perhaps point to an erotic quiver echoed in the subtext of the drawings – just think of the fetishist passion often triggered by men in uniform.
Abdessemed’s drawings, each depicting just one soldier in combat dress, are situated in a zone between memory and hallucination. Taken out of the narrative context where they originally unfolded their visual impact they become artistic placeholders of a hypostasized notion of shock and awe. The traumatic after-effects are usually not drawn from personal experience but from a media impact that is especially powerful in war times. Adel Abdessemed’s soldiers embody force, violence transcending any type of logic governing a state of emergency in the literal sense of the word: not as a means to an end but as cipher for an esthetic surplus of forces that are manifested in the artistic drawing under the sway of art as a fundamental ontological disposition: The horror, the horror!
(Thomas Miessgang, 2015)