Eines der dramatischsten und emotionalsten Sujets der Kunstgeschichte ist die Darstellung der Natur in ihrer grandiosen Erhabenheit. Die Psychologie des Erhabenen beschreibt dabei nicht nur eine moderne ästhetische Qualität, sondern transportiert auch künstlerische, kulturelle und gesellschaftliche Erwartungen. Annie Lapins Ausstellung Emptied by the Sun bei KOENIG2 by_robbygreif stellt die Frage nach einer alternativen, zeitgenössischen Perspektive auf die Aktualität des Erhabenen in einer Zeit der Entfremdung.
Annie Lapin (*1978 in Washington, lebt und arbeitet in Los Angeles) initiiert jedes Gemälde mit dem Gießen von Pigmenten auf Leinen. Anschließend addiert sie Bildschichten und generiert Kompositionen fast zufällig durch eine Rorschach-ähnliche Reaktion auf die physische Farbe, indem sie ihr visuelles Gedächtnis nutzt, das durch ein Online-Archiv kultureller Fundstücke erweitert wird, ohne notwendigerweise die Bedeutung der hinzugefügten Formen zu berücksichtigen.
In ihrem aktuellen Werk hat Lapin die Leinwand während des Malprozesses gedreht, was den dualen Effekt der Umkehrung von Produktions- und Wahrnehmungsrichtung sowie der jeweils vermittelten Bedeutungen noch amplifiziert. Infolgedessen (wenn das Konzept traditioneller Bildkategorien überhaupt in Betracht gezogen werden kann) scheinen sich Hintergrund und Vordergrund, Objekte und Subjekte, Licht und Dunkelheit und umgekehrt zu vermischen, wodurch ein Strudel dynamischer, aber undeutbarer Tiefe entsteht, die gleichzeitig emergiert und zerfällt.
Durch die Bearbeitung und Überarbeitung des verwendeten Bildmaterials verändert die Zufügung jeder neuen Schicht kontinuierlich Form, Inhalt und Interpretation und nähert sich asymptotisch einer abstrakten Bildharmonie innerhalb einer verworrenen Erzählung über Raum, Zeit, Natur und die Eventualitäten der Geschichte der Malerei: Verzerrte Figuren, die Lapins Landschaften durchwandern, könnten an surrealistische Kreaturen erinnern. Ein Vorhang wiederum könnte als Paraphrase auf barocke Mechanismen von Verhüllung und Enthüllung dienen. Caspar David Friedrichs Wanderer drängt sich auf und verweist auf sein längst verbrauchtes Potenzial zu Selbstreflexion und Hochgefühl, während Lapin ihn mit ihren changierenden Farben verstummen lässt.
Im Zeitalter der virtuellen Remakes sind Lapins Gemälde jedoch keineswegs bloße Reproduktionen (kunst-)historischer Bilder, sondern realisieren und führen sie weiter, indem sie eine Integration und Synthese vorangegangener Interventionen wiedergeben. Auf diese Weise gelangt die Künstlerin von initialer Zufälligkeit zu einem hochspezifischen Ergebnis mit historischem Anspruch, ohne dabei irgendeiner Form des künstlerischen Konditionalismus zu verfallen.
Anstelle eines kohärenten Gesamtbildes evozieren die Gemälde ein Gefühl des Paradoxen-Ephemeren, eines Passierens inmitten einer infiniten Abfolge von Momenten. In ihrer obligatorischen und wechselseitigen Beziehung zu den Betrachtenden scheint sich jedes Bildelement in seiner eigenen, unvorhersehbaren Richtung, aber stets mit einem unerbittlichen, ununterbrochenen Momentum zu entflechten. In Analogie zu Heraklits’ Aphorismus panta rhei, des immerwährenden Fließens, bewegen und verändern sich die Bilder mit jedem Betrachten, ohne dabei eine wahrnehmbare Repetition zwischen zwei aufeinanderfolgenden Blicken zuzulassen. Annie Lapins Gemälde besetzen somit nicht nur eine jenseitige Multiplizität, sondern etablieren sie, kennen weder ein Vorher noch ein Nachher und existieren vollkommen gleichzeitig und allumfassend.
Lapins Gemälde bedienen sich einer Reihe kultureller Referenzen des Erhabenen, von den weiten Panoramen und Sonnenstrahlen der Romantik über die flachen, ungebrochenen Oberflächen der Farbfeldmalerei bis hin zur zeitgenössischen kollektiven Erfahrung von Social Media und iPhone-Sonnenuntergängen. Vertraute, mimetische Formen wie Körperausläufer treten aus der Bildfläche hervor und in sie zurück oder transformieren sich in überlebensgroße Figuren, die sich formal aus der Landschaft herausheben: Ihre Präsenz macht deutlich, dass es sich nicht um Gemälde der Realität jenseits von uns handelt, sondern dass sie die schwindelerregend divergierenden Welten nachzeichnen, die von uns und aus uns geschaffen werden. Das fesselnde Verlangen, an Lapins unkontrollierbarem, unfassbarem und unberechenbarem Ausgleich zwischen Logik und Unlogik, zwischen Mythos und Natur teilzuhaben, führt letztlich zu einer irritierenden Nervosität. Von diesem menschlichen Steilhang aus sehen wir eine Reflexion unserer gegenwärtigen Umwelt, Lapins Grundthema, in der ein Informationsüberschuss das, was wir sehen, abstrahiert. Und wir beobachten mit Furcht und Freude zugleich, wie sich endlose Perspektiven auftun, aufeinanderprallen und wieder entschwinden. (Teresa Kamencek, 2024)
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One of the most dramatic and emotive subjects in the history of art is the depiction of nature in all of its sublime grandeur. The psychology of “the sublime” thereby not only describes a modern aesthetic quality, but also conveys artistic, cultural and social expectations. Annie Lapin’s solo show Emptied by the Sun at KOENIG2 by_robbygreif poses questions about an alternative, contemporary perspective on the topicality of the sublime in a time of alienation.
Annie Lapin (*1978 in Washington, lives and works in Los Angeles) initiates each painting with pours of pigment on linen, facilitating the slow, physical motions of paint. She then adds layers of imagery, almost randomly generating compositions through a Rorschach-like response to the physical paint, without necessarily considering the significance of the added forms, tapping into her visual memory extended through the archive of cultural detritus online. In her current body of work, Lapin has flipped the canvas during her painting process, furthering the dual effect of inverting the directions of production and perception, as well as the meanings conveyed by each. As a result (if the concept of such traditional pictorial categories can even be considered) the background appears to merge with the foreground, objects merge with subjects, light merges with darkness, and vice versa, creating a swirl of dynamic, yet indistinct depth that simultaneously emerges and falls apart.
By processing and re-processing the used imagery, the introduction of each new layer continually modifies form, content, and interpretation, asymptotically approaching abstract pictorial harmony within a disordered story concerning space, time, nature, and the eventualities of the history of painting: Distorted figures traversing Lapin’s landscapes could be reminiscent of surrealistic creatures. A curtain, in turn, might serve to paraphrase baroque mechanisms pertaining to veiling and unveiling. Caspar David Friedrich’s Wanderer comes to mind, reminding us of his long-lost potential for self-reflection and thrill-seeking as Lapin’s clashing colors make him cease to exist.
However, in the current age of virtual remakes, Lapin’s paintings are far from being mere reproductions of (art) historical imagery; rather, they realize and conclude them, representing an integration and synthesis of preceding interventions. The artist thus progresses from initial serendipity to a highly specific result with historical claims, without resorting to any form of artistic conditionalism.
Rather than a consistent all over, the paintings evoke a sense of the paradoxically ephemeral, of a happening in an infinite sequence of moments. In their obligatory and reciprocal relationship with the viewer, every element seems to unfold in its own, unpredictable direction, but always with a relentless, uninterrupted momentum. In a manner analogous to Heraclitus’ aphorism of panta rhei, of ever-flowingness, the images move and change with each gaze, without ever enabling a perceptual repetition between two successive glances. Annie Lapin’s paintings thus not only occupy but establish otherworldly multiplicities, having no before or after, existing entirely simultaneously and all at once.
Lapin’s paintings recycle a range of cultural references to sublimity, from the sweeping vistas and sunbeams of Romanticism, to the flat, unbroken surface of Color Field Painting, to the contemporary collective experience of social media and iPhone sunsets. Familiar, mimetic shapes such as bodily extensions recede from the picture surface, or transform into larger than life figures, which formally emerge from the landscape: their presence underscores that these are not paintings of the world outside us, but rather they trace the dizzyingly divergent worlds made by and of us. The compelling desire to participate in Lapin’s uncontrollable, intangible, and unknowable equilibrium between logic and illogic, myth and nature ultimately leads to a disconcerting anxiety. From this precipice, we see a reflection of our current environment, Lapin’s ultimate subject, where an excess of information abstracts what we see, and we watch in both terror and exhilaration as infinite perspectives endlessly emerge, collide, and recede. (Teresa Kamencek, 2024)