JOHANNA KANDL | The Missing Guardian

Aus der enormen Fallhöhe zwischen globalkapitalistischen Suggestionen und einer mickrigen Lebensrealität beziehen Johanna Kandls Bild-Text-Kombinationen ihre Irritationen und gelegentlich auch eine schräge Komik. „Ich genieße den Reiz,“ sagt die Künstlerin, „dass sich eine Kluft aufspannt zwischen Bild und Text und so ein Aha-Effekt entsteht.“ Das Bild The Missing Guardian, das der Ausstellung den Namen gibt, zeigt zwei Männer, beide in Businessanzügen und sehr guter Laune, vor einem einfachen Verkaufsstand. Investoren? Absteiger? Die neue Bescheidenheit? Andere Arbeiten beschäftigen sich mit persönlicher Vergangenheit, zeigen die Geschäftsfassade des seit langem geschlossenen elterlichen Farbgeschäfts an der Brünnerstraße mit Reklameschildern nicht mehr existierender Marken. Das randständige Wirtschaften drängt sich immer wieder ins Zentrum ihrer Kompositionen, nur die geographischen Zuordnungen wechseln: Viktor Adler-Markt in Wien, Belgrad, Baku, Ukraine, Bosnien, die Karl Marx-Allee in Berlin. Es ist eine Welt im Prozess der Transformation, die Johanna Kandl in kleinen Wirklichkeitsausschnitten festhält. Und so wenig die Arbeiten abstrakt sind, so wenig ist es der Prozess ihrer Entstehung. Ausgangspunkt sind meist Fotos, die sie selbst oder ihr Mann Helmut Kandl gemacht haben. Das globale Bilderarchiv, ob es vom Internet oder von Zeitschriften gespeist wird, interessiert sie nicht. Ihre Kunst ist ein Bekenntnis zum Partikularen, zu Erzählfragmenten, die sich nicht zu einer großen Narration ordnen lassen wollen, sondern im Zustand des Chaos, ja des Chthonischen verharren. Die aktuelle Wirtschaftskrise arbeitet Johanna Kandls Weltdeutungsmodulen noch zu, und zwar, indem sie die Text-Bild-Kombinationen retroaktiv mit negativer Energie auflädt: Jetzt geht es nicht mehr nur um ein disproportionales Verhältnis zwischen einem sich in seinen Slogans und rhetorischen Pathosformeln siegesgewiss gebärdenden Superkapitalismus und dessen weniger kapitalintensiven Randlagen, sondern um eine universale Dystopie. Der Kapitalismus sei der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus, hat Walter Benjamin 1927 in einem auch heute noch lesenswerten Text geschrieben. „Es liegt im Wesen dieser religiösen Bewegung, welche der Kapitalismus ist, das Aushalten bis ans Ende, bis an die endliche völlige Verschuldung Gottes, den erreichten Weltzustand der Verzweiflung, auf die gerade noch gehofft wird. Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalismus, dass Religion nicht mehr Reform des Seins, sondern dessen Zertrümmerung ist.“
Walter Benjam
 
Ein großformatiges Gemälde, sehr dünn, fast Grisaille gemalt, zeigt eine unübersehbare Menge an Heiligenfiguren eines Verkaufsstands in Medjugorje, daneben eine Arbeit über „Pyramidenspiele“ und die „Pyramide“ von Visoko in Bosnien, wo seit einigen Jahren ein kleiner Tourismus eingesetzt hat – ein Exilbosnier verbreitete die Theorie, der Stadtberg sei eine Pyramide, die älteste und größte der Welt. Ein Video zeigt die Piazza in Loreto, einen Madonaro (Straßenmaler), Schwestern des Malteserordens, die Weihe von farbenprächtigen Fiat-Sportwägen, einen Bienenschwarm, der sich am Pfingstsonntag pünktlich um 12 Uhr mittags auf einer Brunnenfigur niederlässt und diesen in eine wimmelnde, amorphe Masse verwandelt… Für das Video Brünnerstraße 165 steigt Johanna Kandl im Winter 2008 noch einmal in den Gartenteich, Lieblingsort der Kindheit, der hinter dem elterlichen Geschäft lag. Originalfilmsequenzen aus der 8 mm Filmkamera des Vaters sind zwischengeschnitten. Johanna Kandls Reportagen vom Rande der Welt und vom Ende einer Epoche, sind Versuche, die Welt in der wir leben und deren visuelle Substrate uns als mediale Serienbilder um die Ohren fliegen, epigrammatisch in den Zustand der dauerhaften Bildwerdung zu überführen – Malerei hat mehr Plastizität, Materialität und Authentizitätsversprechen als Fotografie – und gleichzeitig in ihrem illusionistischen Charakter kenntlich zu machen. Ein subtiler Balanceakt, der in den gelungensten Momenten eine Ontologie der Instabilität zu begründen imstande ist. „Manchmal holt einen die Geschichte ein,“ sagt Johanna Kandl. „Vielleicht wird meine Arbeit durch die Krise schärfer. Auf jeden Fall aber anders.“
Thomas Mießgang, 2009

Johanna Kandl’s images draw their vexing effect and also at times their strange humor from the rift between the suggestive forces of global capitalism and a pathetic life reality. “I enjoy the fact that there is a rift between image and text.” The painting The Missing Guardian after which the exhibition is named shows two men, both wearing business suits and in a very good mood, standing in front of a sales stand. Investors? Social descendants? New moderation? Other works address the artist’s own past, depicting the façade of her parents’ paint shop on Brünnerstrasse with signs advertising brands no longer existing today. The marginal small businesses make frequent appearances in her compositions with only the geographical coordinates changing: Viktor Adler market in Vienna, Belgrade, Baku, Ukraine, Bosnia, Karl-Marx Allee in Berlin. It is this world undergoing transformation that Johanna Kandl has captured in small sections of reality.
Her works are anything but abstract which also holds true for the process of their production. The artist usually begins with photographs that she or her husband Helmut Kandl has made. The global archives of imagery, whether supplied from the Internet of from journals, are of no interest to her. Art is an avowal to the particular, to narrative fragments that cannot be arranged to form a large narration but rather stick in a state of the chthonic. The present-day economic crisis is playing into the hands of Johanna Kandl’s modules of world interpretation in the sense that it retroactively adds a negative energy to the text-image combinations. Now it is not about a disproportionate relation between a super-capitalism that is triumphantly gesturing with its slogans and rhetorical expressions of pathos and its less capital-intensive marginal locations but about a universal dystopia. Capitalism is the first case of a blaming rather than repenting cult, as Walter Benjamin wrote in 1927 in a text that is still worth reading today: “The nature of the religious movement which is capitalism entails endurance right to the end, to the point where the universe has been taken over by that despair which is actually its secret hope. Capitalism is entirely without precedent, in that it is a religion which offers not the reform of existence but its complete destruction.”
Walter Benjamin

A large-format painting, very thin, almost painted in the grisaille style, depicts a huge number of sacral figures at a stand in Medujgorje. Next to it there is a piece on “Pyramid Games” and the “Pyramid” of Visoko in Bosnia where small tourism has been developing in recent years. A Bosnian living in exile disseminated the theory that the city hill was a pyramid – the oldest and largest in the world. One video shows the Piazza in Loreto, a Madonaro (street painter), Maltese nuns, a colorful Fiat sports car being blessed, a swarm of bees which on Pentecost Sunday punctually landed on a fountain figure and transformed it into a swarming, amorphous mass. For the video Brünnerstraße 165 in 2008 Johanna stepped again into the garden pond located behind her family’s shop. You see the family being filmed by her father with an 8 mm camera. Johanna Kandl’s reports on the periphery of the world and on the end of an epoch are attempts to translate the world in which we live – whose visual substrates spin about us as serial images from the media – into a state of lasting imagery, epigrammatically. Painting has more plasticity than photography – and at the same time it should be recognizable in terms of its illusionistic character. It is a subtle tight rope walk which when successful is able to establish an ontology of instability. “Sometimes history catches up with you,” as Johanna Kandl says. “Maybe my work assumes more clarity as a result of the crisis. It’s different in any case.”
Thomas Mießgang, 2009

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