Nikita KADAN | The Crime of the Light | Злочин світла
Ein paar Tage, nachdem Russland seine ungerechtfertigte Großinvasion der Ukraine ohne jeglichen Grund gestartet hatte, hatte Nikita Kadan während eines unruhigen Schlafs einen verstörenden Traum. Der Künstler träumte, er wäre in Obolon, dem Kiewer Wohnviertel, wo er seine Jugend verbracht hatte. Es war Nacht, doch alles war hell. Seine Nachbarschaft wurde angegriffen, und der Himmel wurde durch Bombenexplosionen erleuchtet. Die entsetzlichen Umstände dieses Traums waren nicht losgelöst von seiner Wachrealität. Die Reaktionen seiner belagerten Nachbarn waren jedoch beunruhigend. Ihr Verhalten war karnevalesk, als sie genauso über brennende Trümmer sprangen, wie sie am Iwan-Kupala-Tag, dem nationalen Fest der Sommersonnenwende, über kleine Feuer sprangen, in Krater krochen, die im Beton zurückgeblieben waren, als ob am Boden ein Schatz auf sie warten würde, und furchtlos auf die Hölle in ihrer Mitte blickten.
Kadan hat sich in den mehr als 18 Monaten, die seitdem vergangen sind, immer wieder an diesen Albtraum zurückerinnert und über seine Bedeutung nachgedacht, während er in Kiew blieb. Als sich der russisch-ukrainische Krieg dahinzog, wurden für den Künstler die Reaktionen seiner Nachbarn in dem Albtraum verständlich, da er erkannte, was er als »Verbrechen des Lichts« bezeichnet. Seit dem 24. Februar 2022 befinden sich die Ukrainer unter einer metaphorischen Wärmelampe, deren durchdringende Strahlen (zum Beispiel Raketen, Drohnen, Aufrufe zur Kapitulation) darauf abzielen, einen Fieberwahn hervorzurufen. In einem solchen Zustand zu verharren, ohne der Orientierungslosigkeit zu erliegen, ist äußerst fordernd. Der Ausgangspunkt der ausgestellten Werkgruppe, die 2023 entstanden ist und hier erstmals gezeigt wird, besteht darin, Irrtümer darüber auszuräumen, wer für die an der Ukraine verübten Gräueltaten verantwortlich ist und gleichzeitig die Auswirkungen des Krieges auf die Persönlichkeit des Künstlers zu hinterfragen. Die Werkgruppe umfasst eine Skulptur, Kohlezeichnungen, multimediale Collagen sowie Fotografien.
Khvirtka (Irpin Sculpture) zeigt ein von Granatsplittern durchbohrtes Tor eines Privathauses, das während der gescheiterten russischen Belagerung der ukrainischen Hauptstadt beschädigt wurde. In seinem Werk setzt sich Kadan mit der Sensibilität materieller Befunde und mit der Frage, ob ihre »Zulässigkeit« vom Kontext abhängt, auseinander. Obwohl das Tor ursprünglich dazu diente, die Grenzen des Anwesens einer Person zu markieren, offenbart das Werk auch das Sprengen von Grenzen durch gewaltsamen Zutritt. Außerdem hebt der Künstler das Tor an, als wäre es eine Fahne, und vermittelt so, dass verwüstete Fragmente ihre eigene Art von Organisationssignal sind.
Mit Khvirtka (Irpin Sculpture) beantwortet Kadan gemeinsam die Fragen »Wo bin ich?« und »Wo bist Du?«. Das von Granatsplittern durchbohrte Tor, das der Künstler von seinem Eigentümer für eine Summe erwarb, die dem Preis für ein neues Tor als Ersatz entsprach, stellt sinnbildlich dar, wo der Künstler ist. Der Sockel aus poliertem Stein, der als Synonym für Wiener Grandezza steht, verbindet ein zeitgenössisches Kriegsrelikt mit den ästhetischen Konventionen einer alten Metropole. Sein Vorgehen deutet an, dass das, was gerade in der Ukraine geschieht, mit dem zusammenhängt, was in Österreich akzeptiert oder sogar gepriesen wird, und erinnert daran, dass die beiden Länder eine komplexe gemeinsame Geschichte teilen, deren Dynamik noch nicht ausreichend erforscht wurde.
In der Kohlezeichnung Mir ist das Wort »Мир« (Mir) in Druckbuchstaben über ein Filmstill aus einem auf Telegramm veröffentlichten Clip geschrieben, in dem weiße Phosphorbomben über Popasna, einer Stadt in der Ostukraine, niedergehen. Im Russischen bedeutet »Мир« sowohl »Frieden« als auch »Welt«, während das Wort im Ukrainischen nur »Frieden« bedeutet. Kadan verdeutlicht, dass der Teufel im Detail steckt, da Diskrepanzen wie diese schwerwiegende Folgen für diejenigen haben, deren Existenz auf dem Spiel steht. Indem der Künstler das Wort mit der Darstellung einer Munition verquickt, die von der russischen Armee auf ukrainischem Boden eingesetzt wird und angeprangert wird, weil sie übermäßiges Leid verursacht, erläutert er die Konsequenzen.
Im Mittelpunkt der multimedialen Collagen stehen griechische Antiken in den ständigen Sammlungen südukrainischer Museen unter temporärer russischer Besatzung. Diese Kulturgüter stehen stellvertretend für die enorme Menge an Kunstwerken, die Russland unrechtmäßigerweise in sein eigenes Gebiet überführt hat. Kadan zeigt Archivdokumente der Altertümer neben geschmolzenen Glaswaren, die er aus den Ruinen befreiter Siedlungen geborgen hat, und stellt das, was gestohlen wurde, dem, was zurückgeblieben ist, gegenüber.
Die Fotografie eines abstrakten Vogels basiert darauf, was der Künstler am ersten Morgen der groß angelegten Invasion an ein Fenster seiner Wohnung geklebt hat. In einer seelischen Verfassung, die seiner Aussage nach einer »poetischen Hysterie« glich, realisierte Kadan, dass er Klebeband auf die Glasscheibe kleben sollte, um zu verhindern, dass diese im Fall eines Luftangriffs zerspringt, doch er stellte erschrocken fest, dass er nur einen mageren Vorrat davon zur Hand hatte. Von dem wenigen Klebeband, das er hatte, riss er zwei Streifen ab und brachte sie in einem Kreuzmuster auf seiner Scheibe an, so dass ein hochauffliegendes Schutzgebilde entstand.
Nikita Kadan erschafft seine Werke mit einer klaren Zielstrebigkeit, die in jahrelangem künstlerischem Schaffen verfeinert wurde. Seine hier präsentierte Werkgruppe demonstriert sein ausgeprägtes Bewusstsein für tödliche Gefahren und untermauert gleichzeitig seine künstlerische Verve. Während die Ukraine weiterhin ihre Freiheit verteidigt, ist diese Ausstellung ebenso Klagelied wie Schlachtruf.
(Text: Alex Fisher, 2023, Übersetzung: Eva Dewes)
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During a fitful sleep a few days after Russia launched its unjustified and unprovoked full-scale invasion of Ukraine, Nikita Kadan had a disturbing dream. The artist dreamt that he was in Obolon, the Kyiv residential district where he spent his youth. It was night, but everything was bright. His neighborhood was being attacked and the sky was lit by incendiary explosions. The horrific circumstances of this dream were not detached from his waking reality. However, the reactions of his besieged neighbors were troubling. Their demeanor was carnivalesque, as they jumped over burning debris in the same manner they would small fires on Ivana Kupala (a folk holiday), crawled into craters left in the concrete as if some treasure awaited them at the bottom, and looked without fear at the hell in their midst.
Kadan has returned time and again to the memory of this nightmare in the eighteen-odd months since he had it, reckoning with its meaning while he remains in Kyiv. As the Russo-Ukrainian War has dragged on, his neighbors’ reactions in the nightmare have become comprehensible for the artist, as he has come to recognize what he refers to as “the crime of the light.” Since February 24th, 2022, Ukrainians have been under a metaphorical heat lamp, whose penetrating rays (e.g., missiles, drones, calls to capitulate) aim to provoke delirium. Persisting in such a state without succumbing to disorientation is extremely demanding. The body of work on display, produced in 2023 and shown here for the first time, has as its point of departure an impetus to dispel deceptions over who is responsible for the atrocities being perpetrated against Ukraine while interrogating the war’s repercussions for the artist’s selfhood. The body of work includes a sculpture, charcoal drawings, multimedia collages, and photographs.
Khvirtka (Irpin Sculpture) presents a shrapnel-punctured gate from a private residence that was damaged during Russia’s failed siege of the Ukrainian capital. In the work, Kadan engages the sensitivity of material evidence and whether its ‘admissibility’ depends on context. Noting that the gate originally functioned to mark the limits of someone’s property, the work likewise discloses the rupturing of limits through forced entry. Further, the artist lifts the gate as though it were a flag, imparting that ravaged fragments are their own sort of organizing signal.
With Khvirtka (Irpin Sculpture), Kadan jointly answers the questions ‘where am I?’ and ‘where are you?’ The shrapnel-punctured gate, which the artist acquired from its owner for a sum commensurate with the price of replacing it with a new one, emblematizes where the artist is. The plinth, made from a polished stone synonymous with Viennese grandeur, connects a contemporary war relic with an aged metropolis’ aesthetic conventions. His doing so intimates that what is happening in Ukraine is welded to what is accepted, or even praised, in Austria, and reminds that the two countries share a complex history whose dynamics have not been duly explored.
In the charcoal drawing, Mir, the word ‘Мир’ (Mir) is written in block letters over a still from a clip posted on Telegram of white phosphorus bombs streaking down over Popasna, a city in eastern Ukraine. In Russian, ‘Мир’ means both ‘peace’ and ‘world’ whereas, in Ukrainian, the word only means ‘peace.’ Kadan spells out that the devil is in the details, as discrepancies like this one have serious implications for those whose existence is at stake. By enmeshing the word with a depiction of a munition decried for causing excessive suffering being deployed by the Russian army on Ukrainian soil, the artist explicates the consequences.
The multimedia collages center on Greek antiquities in the permanent collections of southern Ukrainian museums under temporary Russian occupation. These cultural artefacts stand in for the vast quantity that Russia has illegally transferred to its own territory. Kadan shows archival documentation of the antiquities alongside melted glassware that he salvaged from the ruins of liberated settlements, contrasting what has been stolen with that which has been left behind.
The photograph of an abstract bird is based on one that the artist taped to a window in his flat on the first morning of the full-scale invasion. In a frame of mind that he says was akin to “poetic hysteria,” Kadan realized that he should put tape on the glass pane to prevent it from shattering in the event of an airstrike, but was startled to find that he had a meager amount on hand. He tore two strips from what little he had, and applied them in a crisscross pattern to his window, forming a soaring safeguard.
Nikita Kadan creates with a clarity of purpose refined through several years of practice. This body of work demonstrates his acute awareness of mortal dangers at the same time that it reinforces his artistic mettle. As Ukraine continues to defend its freedom, this exhibition is as much an elegy as it is a rallying cry.
(Text: Alex Fisher, 2023)